Gute Handarbeit wie in der Kindheit

Freitags- und samstagsabends gegen 18 Uhr steht Annette Zeller mit leeren Händen da. Von den zahlreichen kleinen und großen Torten, mit denen sie am Morgen die Vitrinen ihres Standes in der Markthalle Neun bestückt hat, ist dann nichts mehr zu sehen. Die schwäbische Bäckermeisterin zählt zu jenen rund 50 Händlern, die der 1891 eröffneten Halle vor vier Jahren zur Wiederauferstehung verholfen haben. Vorerst an zwei Tagen pro Woche bieten sie in dem zuvor heruntergewirtschafteten Gebäude im hintersten Winkel von Kreuzberg qualitativ hochwertige Lebensmittel mit dem Schwerpunkt auf regional, saisonal und nachhaltig erzeugte Produkte an.

Heiß begehrt: Frau Zellers Kuchen. Foto: Martin Blath
 

Wenn sich die ehrwürdige Markthalle, die bis 2010 im Besitz des Berliner Großmarktes war, um die Mittagszeit allmählich füllt, kommt Annette Zeller bis zum Abend nicht mehr zur Ruhe. Die Kunden stehen geduldig in der Schlange, bis sie ihre Wahl unter zehn Torten, drei Blechkuchen und sechs Sorten Kleingebäck treffen können. „Das sind Menschen, die gute Handarbeit zu schätzen wissen und sich beim Genuss meiner Produkte an den Geschmack von selbstgebackenem Kuchen aus ihrer Kindheit erinnern“, erklärt die 49-jährige Meisterin, die ihre Ein-Frau-Manufaktur auf den Namen „Frau Zeller“ getauft hat.

Annette Zeller ist Bäckermeisterin in der vierten Generation. Ihr Handwerk hat sie von 1987 bis 1989 im elterlichen, vom Großvater gegründeten Betrieb in Schwäbisch-Gmünd erlernt. Anschließend ging sie fünf Jahre auf Wanderschaft und verbrachte ihre Gesellenjahre in Augsburg, Ulm und Memmingen. „Diese intensiven Erfahrungen waren sehr wichtig.“ Dann war die Zeit reif für die Meisterprüfung, die Annette Zeller an der Bäckerfachschule in Stuttgart abgelegt hat. Für den nächsten Schritt war die Zeit offenbar noch nicht reif: Mit ihrem damaligen Partner eröffnete sie 1992 ein Konditorei-Café in der Nähe von Schwäbisch-Gmünd. Doch der Traum platzte. „Davon war ich so frustriert, dass ich drei Jahre lang keinen Teig mehr angerührt habe.“

Das änderte sich erst, als Annette Zeller schwanger wurde – denn anstatt auf saure Gurken stellte sich ein Heißhunger auf Süßes ein. „Ich verfiel einem neu entfachten ‚Backwahn‘ und buk Weihnachtsplätzchen bis tief in die Nacht, und ab sofort war mir jeder Anlass recht, um meiner Kreativität freien Lauf zu lassen.“ Davon profitierten zunächst ihre Familie und der Freundeskreis. Dann kam der erste Auftrag: Eine Freundin, die weltweit bekannte Berliner Hutmacherin Fiona Bennett, bestellte zwei ausgefallene Kuchenkreationen. „Damit war ein kleiner Stein ins Wasser geworfen worden, der Kreise ziehen sollte.“

 

 

Den endgültigen Ausschlag, sich wieder auf ihre handwerklichen Wurzeln zu besinnen und damit Geld zu verdienen, gab ein im Mai 2011 in der „Berliner Zeitung“ erschienener Artikel: Die düstere, verwaiste Kreuzberger Markthalle sollte von „Händlern mit Herzblut“ zu neuem Leben erweckt werden. Zwei Gastronomen aus Bayern und einem örtlichen Betriebswirt ist es zu verdanken, dass die unter Denkmalschutz stehende Halle nicht dem völligen Verfall preisgegeben wurde. Für 1,1 Millionen Euro kauften sie der Berliner Großmarkt GmbH das wunderschöne historische Gebäude ab, in dem jetzt wieder ein munteres Treiben herrscht und dass sich Schritt für Schritt wieder zum Mittelpunkt des Kiezes rund um den Lausitzer Platz entwickelt.

„Jetzt oder nie, sagte ich mir, du bist 45 Jahre alt, wage es!“, erinnert sich Annette Zeller. Doch zunächst musste eine eigene Backstube her. Die entstand – mit tatkräftiger und finanzieller Hilfe von Freunden – im Sommer 2011 in Köpenick, sodass der Stand namens „Frau Zeller“ zu den ersten in der wenige Monate darauf wiedereröffneten Halle gehörte. Die Tortenbäckerin backt, wie sie es beim Vater gelernt hat: ohne künstliche Hilfsmittel, Gelatine und chemische Zusätze aller Art. „Ich verzichte auf die vielen kleinen Helferlein, die den Herstellungsprozess beschleunigen, und ersetze sie durch die Zutaten Zeit, Gefühl und Liebe.“

 

80 Prozent der anderen Zutaten stammen aus biologischer beziehungsweise regionaler Erzeugung, und Quitten, Äpfel und Walnüsse kommen gar aus dem eigenen Garten. Verfeinert werden die aus Dinkelmehl und Demeter-Eiern hergestellten Torten mit natürlichen, zum Teil selbst hergestellten Aromen sowie mit Kuvertüre und Marzipan. „Guter Kuchen entsteht aber erst dann, wenn die hochwertigen Zutaten auch mit bewährtem Wissen und einem innovativen Blick handwerklich verarbeitet werden“, sagt Annette Zeller. Zu den Rennern der „Slow Food“-Unterstützerin gehört ihre „Wolkentorte“ aus zwei Biskuitböden, Schmand, Sahne und einer ohne Ei gekochten Zitronen-creme. Eine Baissier-Haube und eine Rose aus Zitronenschale runden das heiß begehrte Meisterwerk ab, und in der Saison dürfen auch gerne frische Beeren hinzukommen.

 

In der Markthalle Neun ist „Frau Zeller“ in guter kollegialer Gesellschaft von zwei weiteren Handwerksbäckern. Gleich nebenan betreibt der am Comer See geborene Maestro Alfredo Sironi seine gläserne Bäckerei „Il Pane di Milano“, in der Brot, Focaccia, Pizza und süßes Gebäck aus norditalienischen Mehlen reißenden Absatz finden. Und eine Ecke weiter steht man am Stand der Neuköllner Bio-Bäckerei „endorphina Backkunst“, die hier vor vollem Brot und Brötchen verkauft. In diesem Umfeld war die Zeit reif für die Verwirklichung von Annette Zellers zweitem Traum. Und bei diesem Umfeld möchte sie es auch belassen. Expansion ist ein Thema, über das sie zwar schon einmal nachgedacht, aber genauso schnell wieder verworfen hat. Denn unterm Strich geht alles durch ihre Hände. Und das soll so bleiben. „Ich habe mich für die Selbstständigkeit entschieden, um meine Ideen umzusetzen – und nicht, um das große Geschäft zu machen.“

Erstveröffentlichung: Allgemeine BäckerZeitung (www.abzonline.de)