Wer mitmachen wollte, musste nicht zwangsl\u00e4ufig B\u00e4cker sein. Wichtig war vor allem der im weitesten Sinne politische Wille, es anders zu machen als die M\u00fctter und V\u00e4ter. Anders zu arbeiten; andere, \u201esinnvolle\u201c Produkte herzustellen und anders zu leben. Diese Vision stand Pate, als f\u00fcnf junge Leute im Jahr 1978 im Berliner Bezirk Charlottenburg die selbstverwaltete Bio-B\u00e4ckerei \u201eBrotgarten\u201c gr\u00fcndeten. Das erste B\u00e4ckerei-Kollektiv der Hauptstadt geh\u00f6rt zu den Pionieren der deutschen Bio-Handwerksb\u00e4cker.<\/p>\n
F\u00fcnf Jahre darauf entstand im Bezirk Neuk\u00f6lln der zweite kollektiv gef\u00fchrte Betrieb. Die drei Frauen und drei M\u00e4nner waren genauso wie ihre Charlottenburger Kollegen von der Sehnsucht nach alternativen Arbeits- und Lebensmodellen getrieben und hoben 1983 die Vollkornb\u00e4ckerei \u201eMehlwurm\u201c aus der Taufe. Der Anspruch, andere, \u201esinnvolle\u201c Produkte herzustellen, pr\u00e4gte zudem die Vision von Heinz und Mucke Weichardt. Allerdings nicht in Form eines Kollektivs, sondern im Sinne der Anthroposophie und der biologisch-dynamischen Landwirtschaft: 1977 er\u00f6ffnete das Ehepaar in Berlin-Zehlendorf die erste deutsche Demeter-B\u00e4ckerei.<\/p>\n
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Die Anfangsjahre bei Mehlwurm. Foto: Mehlwurm<\/strong><\/span><\/p>\n Als der B\u00e4cker- und Konditormeister Reinhard Greten 1984 aus dem nieders\u00e4chsischen Vechta in die geteilte Stadt kam, hatte er keine rechte Lust mehr an seinem Handwerk. In der Heimat, wo er im elterlichen Betrieb gelernt hatte, sah der damals 24 Jahre alte Geselle keine M\u00f6glichkeit, seine Vorstellungen von einem selbstbestimmten Arbeiten mit Gleichgesinnten umsetzen. Das \u00e4nderte sich mit dem Eintauchen in die Berliner Bio-Szene, wo Greten zum Brotgarten fand, schlagartig. \u201eDa hat mich der Beruf wieder gepackt \u2013 das war alles Neuland und damit total interessant.\u201c<\/p>\n Der Startschuss f\u00fcr die Charlottenburger B\u00e4ckerei fiel in einem \u00fcber Jahre verwaisten Betrieb von 1890, in dem der gemauerte Ofen noch seinen Dienst tat. Vor der offiziellen Er\u00f6ffnung g\u00f6nnte sich das Kollektiv, in dem jeder alles machte, eine einj\u00e4hrige Phase des Probierens und Experimentierens, w\u00e4hrend der die f\u00fcnf Neulinge nur f\u00fcr den eigenen Bedarf und f\u00fcr das eine oder andere Musikfestival buken. 1978 wurde es dann ernst \u2013 mit einem \u00fcberschaubaren Sortiment aus f\u00fcnf Sorten Kastenbrot und dem einen oder anderen s\u00fc\u00dfen St\u00fcckchen. Die Arbeitszeiten waren im Vergleich zu heute luxuri\u00f6s: Da der Laden erst um 10 Uhr \u00f6ffnete, mussten die B\u00e4cker nicht vor 6 Uhr ans Werk gehen. \u201eUnd wenn einer mal verschlafen hatte, war das auch kein Drama\u201c, erz\u00e4hlt Reinhard Greten.<\/p>\n Nicht dramatisch, aber gravierend war die erste gro\u00dfe Ver\u00e4nderung, die der Brotgarten knapp zwei Jahre nach der Gr\u00fcndung erlebte: Zwei Mitglieder des Kollektivs schieden aus, um eigene Betriebe zu er\u00f6ffnen. So entstanden der Kreuzberger Brotgarten und das BackHaus in Wilmersdorf, das heute als BioBackHaus firmiert. Zwei weitere Betriebe haben ihre Wurzeln ebenfalls im Brotgarten: M\u00e4rkisches Landbrot und die Vollkornb\u00e4ckerei in der ufa-Fabrik, die Anfang 2014 unter die Fittiche der Berliner Bio-Marktkette LPG geschl\u00fcpft ist.<\/p>\n Anfang der 90-er Jahre gingen auch Antonius Beumer und Christa Lutum, die sich in der B\u00e4ckerei Mehlwurm kennengelernt hatten, ihren eigenen Weg und gr\u00fcndeten in Kreuzberg den Bio-Betrieb Beumer & Lutum. Der einzige verbliebene Mitbegr\u00fcnder des Neuk\u00f6llner Kollektivs ist Wilfried Fahlenbock. Ebenso wie Reinhard Greten hatte der heute 66-j\u00e4hrige D\u00fcsseldorfer nach der Ausbildung in der elterlichen Firma und der Meisterpr\u00fcfung erst einmal genug von der Branche. Er ging 1976 nach Berlin, studierte Politikwissenschaften und peilte nach dem Diplom eine wissenschaftliche Laufbahn an.<\/p>\n Daraus sollte jedoch nichts werden. Also kehrte der Rheinl\u00e4nder zur\u00fcck zu seinen Wurzeln und arbeitete in mehreren Berliner B\u00e4ckereien, bis er 1982 von der geplanten Mehlwurm-Gr\u00fcndung erfuhr. Als einziger Fachmann war Fahlenbock f\u00fcr die k\u00fcnftigen Kollektivisten aus Optikern, Erziehern, Sozialp\u00e4dagogen, Kaufleuten und Studienabbrechern ein Gl\u00fccksfall. Bevor es losging, stellte er eine Bedingung: \u201eJeder von uns, mich eingeschlossen, musste ein dreimonatiges Praktikum in einer Bio-B\u00e4ckerei machen.\u201c<\/p>\n Mit den Broten und Br\u00f6tchen, die in den ersten Monaten aus dem alten Ofen in der Pannierstra\u00dfe kamen, konnte der Meister kaum zufrieden sein. \u201eDas war noch nicht so berauschend \u2013 eher etwas backsteinm\u00e4\u00dfig.\u201c Davon lie\u00dfen sich die sechs jungen Frauen und M\u00e4nner, die nach alternativen, autonomen Formen des Arbeitens und Lebens suchten, jedoch nicht entmutigen. Die Qualit\u00e4t wurde stetig besser, und die Kunde davon erreichte die ersten Bio-L\u00e4den, die ihr Sortiment um frische Backwaren erweitern wollten. Unverzichtbar f\u00fcr das \u00dcberleben des Experiments war die damals gr\u00f6\u00dfte Kundengruppe: die politischen Weggef\u00e4hrten aus dem Umfeld der Hausbesetzer. \u201eDie waren uns nat\u00fcrlich verbunden und haben uns mit ihren gro\u00dfen Sammelbestellungen wirtschaftlich gest\u00e4rkt\u201c, erinnert sich Fahlenbock.<\/p>\n F\u00fcr die einzelnen Mitglieder des Kollektivs waren die ersten Jahre finanziell dennoch \u00e4hnlich hart wie das erste Brot. \u201eWir konnten uns fast nichts auszahlen, und jeder musste noch etwas hinzuverdienen.\u201c Wer durchhielt, konnte sich Ende der 80-er Jahre freuen: Die B\u00e4ckerei stand auf einem stabilen Fundament. Bis dahin hatten sich die Reihen schon etwas gelichtet, denn allein mit Idealismus und Aufbruchsstimmung waren die Herausforderungen eines Handwerksbetriebs nicht zu bew\u00e4ltigen. Gleichwohl pr\u00e4gt der Geist von damals auch heute noch teilweise den Alltag bei Mehlwurm und im Brotgarten: Die Selbstverwaltung wird nach wie vor gro\u00dfgeschrieben, die Hierarchien sind flach, und der Anspruch, sinnvolle Produkte herzustellen, ist auch f\u00fcr die Zukunft in Stein gemei\u00dfelt.<\/p>\n