Wie anno 1807: Backen am offenen Feuer

Ohne Johann Christian Dorothea Andreas Schernikow wäre die Hansestadt Salzwedel wohl um eine Attraktion ärmer. Zurück von der Wanderschaft, buk der 24 Jahre alte Konditor im Jahr 1807 seinen ersten Baumkuchen, für er 1842 eine Schutzmarke erhielt. Die Rezeptur hatte er aus Lüneburg mitgebracht, zu Hause verfeinert und in seinem bis heute erhaltenen „Conditorei-Buch“ verewigt.

Die wertvolle Schrift befindet sich im Besitz der Familie Hennig, die in Salzwedel die „Erste Salzwedeler Baumkuchenfabrik“ betreibt und weiterhin streng nach Schernikows Komposition produziert. Gemeinsam mit drei weiteren Betrieben pflegt die Handwerksbäckerei das Image der kleinen schmucken Fachwerkstatt in Sachsen-Anhalt als Zentrum der heute wie vor 200 Jahren am offenen Feuer gebackenen Spezialität.

 

Herr der Baumkuchen: Konditormeister Achim Lehnig. Foto: Martin Blath
 

In der St.-Georg-Straße 87, etwas abseits des nahezu vollständig erhaltenen Stadtzentrums, geht es schon am Vormittag zu wie im Taubenschlag. Die meisten Kunden holen um diese Zeit ihre Bestellungen ab. Dabei handelt es sich um kunstvoll aus modelliertem Marzipan verzierte, zwischen 7 und 60 Zentimeter hohe und bis zu 4,50 Kilogramm schwere Kuchen, die zu allen möglichen Anlässen verschenkt werden – vom runden Geburtstag über die Hochzeit bis zum Firmenjubiläum.

Zwei japanische Touristen stehen geradezu ehrfurchtsvoll vor den Auslagen und decken sich mit einigen Tüten Baumkuchenspitzen ein. „Ja, wir werden sogar in einem japanischen Reiseführer erwähnt, und in China ist der Baumkuchen ebenfalls begehrt“, weiß Heike Hennig, die ältere Tochter des Firmengründers Oskar Hennig und Meisterin der handgefertigten Verzierungen.

Kurz nach der deutschen Wiedervereinigung schlägt für den Konditormeister und seine Familie die Stunde null: Die 1958 durch die DDR-Behörden angeordnete Zwangsenteignung des Betriebs – und damit die Zeit der VEB-Baumkuchenbäckerei – ist Geschichte. Im Alter von über 50 Jahren bauen Oskar Hennig und seine Frau Hanni die traditionsreiche Firma, deren Ursprung bis zu Johann Christian Dorothea Andreas Schernikow zurückreicht, ab 1990 wieder auf. Tatkräftige Unterstützung kommt bald von den Töchtern Heike und Bettina.

Die Physiotherapeutin Heike kehrt aus Celle zurück, und die Damenmaßschneiderin Bettina bricht ihre Zelte in Süddeutschland ab, um sich wieder auf ihre Salzwedeler Wurzeln zu besinnen. Nach vier Jahren gemeinsamer harter Arbeit ist das Schiff wieder auf Kurs, und die Erste Salzwedeler Baumkuchenfabrik wird mit dem CMA-Spezialitäten-Preis ausgezeichnet. Sechs Jahre darauf geht Oskar Hennig in den Ruhestand und übergibt das Ruder an Tochter Bettina.

 

Am frühen Nachmittag wird es eng in der Backstube. Die Teilnehmer einer vom städtischen „KulTour-Betrieb“ angebotenen Baumkuchenführung schauen Konditormeister Achim Lehnig und seinem Gesellen Torben Schwuchow gebannt über die Schultern. Außer samstags und sonntags lädt die Bäckerei täglich von 10 bis 15 Uhr zum Schaubacken mit Verkostung ein. Alle 20 Minuten verlässt ein fertiger Baumkuchen, der wie ein großes Stück Fleisch am Spieß aussieht, das offene, 300 Grad heiße Feuer der beiden gemauerten Öfen.

Das Handwerk der Konditoren erfordert viel Geschick „und viel Bauchgefühl“, wie es Heike Hennig formuliert. Ihr wichtigstes Werkzeug ist eine Schöpfkelle. Damit geben sie den flüssigen Teig aus einer Wanne unterhalb des Drehspießes in kurzen Abständen auf die gut einen Meter langen Buchenholzwalzen, an denen elf gezackte Baumkuchenringe wachsen.

Auf ihr Bauchgefühl setzen Lehnig und Schwuchow beispielsweise bei der Frage, ob sie acht oder zehn Schichten der flüssigen Masse pro Kuchen auf den Spieß geben sollen. Oder wann eine Schicht optimal abgebacken und damit die Gefahr gebannt ist, dass das halbfertige Produkt in die Teigwanne plumpst. Die Antwort darauf ist abhängig von der stets unterschiedlichen Konsistenz des Teigs aus Mehl, Zucker, Butter, Eigelb, steif geschlagenem Eiweiß und den geheim gehaltenen Gewürzen – sie wird von den Raumbedingungen bestimmt. „Der Teig reagiert äußerst empfindlich auf die Luftfeuchtigkeit in der Backstube, und deshalb man muss jeden Tag aufs Neue beobachten, wie die Masse aufgeht“, erklärt Heike Hennig.

 

 

Bis zu einem Jahr kann es dauern, bevor ein neuer Baumkuchenbäcker über das feine Gespür für diese Besonderheit verfügt. Bewundernswert ist nicht nur das Handwerk von Achim Lehnig und Torben Schwuchow, sondern auch das der „Anschlägerin“ Rosi Meissner. Ihre Aufgabe ist es, täglich 1.300 Eier säuberlich von Hand zu trennen, das Eiweiß in zwei Maschinen steif zu schlagen und mit den übrigen Zutaten zu einem Teig zu verarbeiten, der ihren Kollegen möglichst wenig Bauchgefühl abverlangt.

Fast 80 Prozent des Umsatzes erzielt der Familienbetrieb inzwischen mit dem europaweiten Versand des seit 2013 geografisch geschützten Salzwedeler Baumkuchens, der nach einer Abkühlungszeit von 24 Stunden entweder mit einer Zuckerglasur (Fondant) oder mit belgischer Schokolade überzogen wird. Auf die zum Teil weite Reise gehen zudem Baumkuchentorten, Rumkugeln, Kleingebäck in diversen Ausführungen sowie die dazu passenden Kaffeebohnen aus einer Privatrösterei und spezielle Baumkuchenmesser. Sobald die empfindliche Ware bei den Kunden eingetroffen ist, läuft die Uhr: Da die Hennigs keine Konservierungsstoffe verwenden, ist der Kuchen maximal zehn Tage haltbar, büßt aber auch durch das Einfrieren nicht an Geschmack ein.

 

Vor dem Aufbau dieses Geschäftsbereichs herrschte in der Ersten Salzwedeler Baumkuchenfabrik zweimal im Jahr die Ruhe nach dem Sturm: im Sommer und nach der vorweihnachtlichen Hochsaison. „Seit wir den Online-Shop betreiben, gehören diese Flauten der Vergangenheit an“, sagt die Inhaberin Bettina Hennig.

Der Schlüssel zum Erfolg des Liefergeschäfts sind die über Jahre gepflegten Kontakte zu Reiseveranstaltern aus ganz Europa, die die Touristen mit dem Bus direkt vor der Tür absetzen. „So haben wir uns kontinuierlich einen treuen Kundenstamm erschlossen“. Der Konditormeister Johann Christian Dorothea Andreas Schernikow wäre vermutlich stolz auf seine Nachfolger, die aus seinem 200 Jahre alten „Conditorei-Buch“ das Beste für ihre Kunden und für den guten Ruf der Hanse- und Baumkuchenstadt Salzwedel machen.

Erstveröffentlichung: Allgemeine BäckerZeitung (www.abzonline.de)