Nährstangen und Magdeburger Kugeln

Mitte der siebziger Jahre war erst einmal Schluss: Die Konsum-Schokoladenfabrik Tangermünde stellte die Produktion der von ihr entwickelten „Nährstange“ ein. Nicht zuletzt, weil Rohstoffe wie Soja in der DDR schwer zu beschaffen waren. Für Klaus Stehwien war diese Entscheidung des Volkseigenen Betriebs im Norden von Sachsen-Anhalt wie sechs Richtige im Lotto. Das stellte sich jedoch erst nach der Wende heraus.

Der Bäcker- und Konditormeister erwarb damals die Rechte an den mit Schokolade überzogenen Riegeln und fertigte sie ab 1990 in seinem reprivatisierten Betrieb als Nebenprodukt weiter. Dort, im altmärkischen Jävenitz bei Stendal, hatte der Großvater 1899 eine Land- und Feinbäckerei gegründet. Heute ist die regionale Spezialität mit dem altmodischen Namen beinahe das einzige Produkt der inzwischen in der Hansestadt Tangermünde ansässigen Konditorei Stehwien.

Schon zu DDR-Zeiten ein Renner: Tangermünder Nährstangen

Im Jahr 2008 war endgültig klar, dass die Familienbäckerei mit ihrem klassischen Sortiment aus Brot und Kuchen nicht überleben würde. „Als kleiner Handwerksbetrieb in einer strukturschwachen und dünnbesiedelten Region wie der Altmark hatten wir gegenüber den Ketten keine Chance mehr“, erzählt Klaus Stehwiens Neffe Olaf, der das heutige Unternehmen zusammen mit seinem Onkel führt. Eine große Chance witterte die Familie hingegen in der maschinellen Herstellung der Nährstangen, die unter anderem aus Puderzucker, pflanzlichem Fett, Magermilchpulver, Sojamehl, Butter und Weizenmehl bestehen. Zu Recht, wie man heute weiß: Im Jahr 2000 eröffneten die Stehwiens eine moderne Produktionsstätte am Rande der kleinen Stadt an der Elbe.

Bis dahin hatten Klaus und der gelernte Elektroingenieur Olaf Stehwien in der aufgegebenen Bäckerei am heutigen Erfolg der Riegel und Pralinen getüftelt. Ein zentraler Punkt war zum Beispiel die Einzelverpackung der Produkte, die zuvor lose über die Ladentheke gegangen waren. Und natürlich die alles entscheidende Frage der Vermarktung, also welche Ketten des Lebensmitteleinzelhandels für die Ware zu gewinnen wären.

Diese Frage ist seit 15 Jahren beantwortet: Die Erzeugnisse der Konditorei Stehwien, die in der Produktion zwölf Mitarbeiter beschäftigt, sind unter anderem bei Edeka, Rewe und Kaufland sowie bei einigen Konsumverbänden gelistet. Und der Neffe hat seinen Job als studierter Elektriker längst an den Nagel gehängt. Seit 2005 ist die Firma, die ihre Ware in einem Umkreis von 80 Kilometern noch selbst zum Kunden bringt, nach den „International Featured Standards Food“ zertifiziert. „Wer große Handelsketten beliefern möchte, muss diese Hürde nehmen“, erklärt der 48-jährige Unternehmer.

Ebenfalls sehr beliebt: Magdeburger Kugeln

Die traditionelle Tangermünder Nährstange mit ihrer lockeren Füllung, deren Qualität nach wie vor von Hand kontrolliert wird, kommt in drei Varianten aus dem Extruder. Zwei weitere Produkte festigen die Position der regionalen Nischenprodukte im kaum noch überschaubaren Markt der Schokoladenriegel: der aus Haselnuss und Nougat bestehende Tangermünder „Tanolo“ und die zum größten Teil aus Persipan hergestellte „Rollistange“. Einen erklecklichen Beitrag zum Umsatz der Konditorei Stehwien leisten zudem die „Magdeburger Kugeln“. Das sind handgeschöpfte Pralinen aus Edelbitterschokolade mit einem Kakaoanteil von 62 Prozent und einer Füllung aus Sahne und Bourbon-Vanille. Sie erinnern an den Magdeburger Juristen und Physiker Otto von Guericke, der im Jahr 1654 mit zwei Halbkugeln aus Kupfer die Wirkung des Luftrucks demonstrierte und damit die Existenz der Erdatmosphäre bewies.

Auch nicht von schlechten Eltern: die Bio-Linie

Die Bezeichnung „Ostprodukt“ hört man in Tangermünde nicht so gerne. „Wir fertigen hochwertige regionale Konditorwaren nach dem neuesten Produktionsstandard – und die kauft der Kunde nicht, weil sie Ostdeutschland hergestellt werden“. Ohne jeglichen Bezug zur Region Altmark tritt eine neue, in Bio-Qualität und unter einem anderen Label vermarktete Produktlinie auf, mit der das Familienunternehmen zum Beispiel in den Märkten von „Alnatura“ und „Dennre“ präsent ist. Darüber hinaus werden diese Riegel über einen Vertriebspartner schrittweise exportiert. Den Anfang macht das Geschäft mit den Niederlanden, aber auch die ersten Kontakte in Richtung USA sind vielversprechend. „Der Trend geht klar hin zu Bio-Produkten aus fair gehandelten Rohstoffen“, stellt Stehwien fest.

Keinem Trend, sondern einer festen Überzeugung der Inhaber folgen die Unternehmensgrundsätze der Firma. Mit diesen schriftlich fixierten Prinzipien bekennen sich die Stehwiens nicht nur zu einer überdurchschnittlichen Qualität zur Sicherung des wirtschaftlichen Erfolgs und der Arbeitsplätze, sondern auch zu den beruflichen und persönlichen Belangen der Mitarbeiter. Und sie besagen, dass Profitmaximierung nicht das oberste Ziel der Firma ist. „Unsere Grundsätze gehen auf eigene Erfahrungen mit Arbeitgebern zurück, bei es menschlich nicht immer gut gelaufen ist“, sagt Olaf Stehwien. Das möchte man den Mitarbeitern ersparen und deshalb dafür sorgen, „dass die Leute Freude an der Arbeit haben und jeden Morgen gerne hierher kommen“.

Erstveröffentlichung: Allgemeine BäckerZeitung (www.abzonline.de)